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Eine Jugend in der Zeit der Verfolgung. Ein Brief von Helma Roos. Tod in Auschwitz.

Das Windeck-Gymnasium Bühl versteht sich als Schule ohne Rassismus. Zur Information über die Auswirkungen der rassistischen Politik des Nationalsozialismus veröffentlicht das Gymnasium hier einen Text über Helma Roos, die zwischen 1931 und 1937 Schülerin an der „Altwindeck-Schule“ war, einer Vorläuferschule des Windeck-Gymnasiums. Die NS-Politik führte zu ihrer Ermordung im Vernichtungslager Auschwitz.
Der Text wurde zuerst am 27.1.2015 im Badischen Tagblatt (Bühl) veröffentlicht. Der erwähnte Semi Uffenheimer war ein Freund der Familie Roos.

Ihre Schulzeit endete für die 16jährige Helma Roos im April 937, ein Jahr vor der Flucht Semi Uffenheimers aus Deutschland. Die Altwindeck-Schule in Bühl, später das Windeck-Gymnasium, verließ sie mit der mittleren Reife, dem Abschluss nach der 10. Klasse. Bis in dieses Jahr glaubten viele jüdische Einwohner, vielleicht auch die Familie Roos, an eine Beruhigung ihrer Situation. Die Gewaltaktionen gegen sie waren 1936 eingedämmt worden. Im Jahr der Olympischen Spiele in Garmisch-Partenkirchen und Berlin nahmen die Nazis Rücksicht auf die öffentliche Meinung im Ausland.

Aber doch waren die jüdischen Menschen aus vielen Bereichen des Lebens ausgeschlossen. Die „Nürnberger Gesetze“ machten sie 1935 zu „Staatsbürgern“, nahmen ihnen die Rechte der nichtjüdischen deutschen „Reichsbürger“ – ein Gesetz von vielen gegen die jüdischen  Menschen. Die Isolierung von den bisherigen Freunden und Freundinnen, der Ausschluss aus Vereinen, selbst den Sportvereinen, das Verbot des Besuchs von Schwimmbädern, das Ausbleiben der Kunden bei ihrem Vater, immer mehr Plakate mit „Juden unerwünscht“, daran konnte auch eine 16Jährige wie Helma Roos die immer schlimmeren Zustände erkennen. Und viele, gerade junge Leute, machten sich auf in die Emigration.

Eine berufliche Ausbildung gab es für jüdische Jugendliche nur noch an besonderen Einrichtungen, die von jüdischen Einrichtungen oder Privatleuten geführten wurden. Ihre Schwester Elisabeth erlernte die Krankenpflege in Frankfurt, übte dann den Beruf in Köln aus. In Stuttgart gab es das „gymnastisch-orthopädische Institut“ von Alice Bloch, einer Spezialistin für gesundheits – und körperbewusste Kindererziehung. Die Nazis betrieben die Trennung der jüdischen Bevölkerung von den übrigen Deutschen; deshalb wurde die Gründung dieser Schule 1935 von ihnen unterstützt. Für die sportbegeistere Helma Roos war das „Institut“ gerade richtig, sie ging gleich nach dem Ende der Schulzeit nach Stuttgart. Die monatlichen Kosten von 65 Reichsmark konnten ihre Eltern gerade noch aufbringen. Endlich wieder Sport und Zusammensein mit Gleichaltrigen.

Im Oktober 1939 hielt sich Helma Roos in Bühl bei ihren Eltern auf. Am 26. des Monats schreibt sie einen Brief an Semi Uffenheimer in Buenos Aires. Diesen Brief bewahrte Semi Uffenheimer in einem Koffer auf, den nach seinem Tod 1981 seine Stieftochter Ruth und deren Mann Gabriel Groszman entdeckten.

Zwei Jahre medizinische Ausbildung an der Alice-Bloch-Schule in Stuttgart liegen hinter der nun 18jährigen Selma Roos. Vor sich sieht sie ein Volontariat im jüdischen Krankenhaus in Frankfurt. Stuttgart, das war für sie eine Zeit von „Freud und Leid“. In Frankfurt, so hofft sie, wartet auf sie „ein neues, glückliches Leben“.

Selbstbewusst stellt sie im ersten Abschnitt des Briefes Semi ihren erfolgreichen Abschluss der Prüfungen dar. Sie ist nun Turn- und Gymnastiklehrerin, ausgebildet auch in Massage und Tätigkeiten einer Arzthelferin, ein Examen, das der NS-Staat anerkennt. Was sie in Stuttgart als glückliche Erlebnisse erfuhr, gibt sie nicht näher an.

Und das „Leid“? Was hinter ihr liegt, lässt sie unausgesprochen. Im Schlussabschnitt ihres Briefes spielt sie darauf an, dass sich die Eltern Semis noch in Deutschland, in Breisach aufhalten. „Die allgemeinen Neuigkeiten wirst Du von deinen lieben Eltern immer erfahren. Es gibt ja immer recht viel Neues.“

„Viel Neues“: Dazu gehörte das Novemberpogrom 1938, danach die Sondersteuern, ein Raub am Vermögen der jüdischen Menschen, die noch etwas besaßen, die Schließung ihrer Geschäfte, besondere „Kennkarten“ und das „J“ in den Reisepässen, mit denen sie gebrandmarkt wurden. Der Besuch von Kino, Theater und Konzerten: verboten. Ihre Eltern in Bühl mussten in ein „Judenhaus“ ziehen, in das Haus von Anna Besag in der Alban-Stolz-Straße. Die Frauen und Männer, deren Vornamen nicht genügend „jüdisch“ klangen, mussten einen zusätzlichen Namen führen: Helma Sara Roos. Die schikanöse und demütigende Jagd nach den Ausreisepapieren: langes Anstellen auf den Ämtern, um auch nur ein Führungszeugnis zu erhalten, das vom amerikanischen Konsulat in Stuttgart für die Emigration gefordert wurde.

Dazu die antijüdische Hetze der Nazis, persönliche Schmähungen, die Erwartung immer neuer Drangsalierung, wachsende Ungewissheit. Seit Kriegsbeginn im September des Jahres 1939 durfte sie, noch war Sommer, nach 21 Uhr das Haus nicht mehr verlassen, für den Winter galt das schon eine Stunde früher. Radiohören: seit fünf Wochen verboten. „Was wir hier erleben, können wir nicht zu Papier bringen, und wie müssen wir stark bleiben!“, schreibt eine jüdische Mutter an eines ihrer Kinder.

Von all dem berichtet Helma Roos nichts. Aber sie schreibt an Semi: „Ich bin gewachsen und älter geworden und habe ein ernstes Leben vor mir.“ Und: „Doch verdienen ist für uns die Hauptparole. Das ist nun das wichtigste, was ich von mir seit Deiner Abreise berichten kann.“ Die äußere Not und die im Innern bewältigen — sie will Semi und vielleicht auch sich selbst Stärke beweisen, wie schon im Bericht über ihr erfolgreiches Examen. Und seit Kriegsbeginn gilt eine verschärfte Zensur.

Ganz Persönliches, fast Intimes bricht doch durch. „Ich habe nun genug von mir gequatscht und jetzt will ich mich mal mit Dir unterhalten: Also, lieber Semi, wie geht’s Dir denn, was machst du immer? Was macht die schöne, schöne Ungarin, liegt sie Dir immer noch im Sinn? Oder hast Du Dich mit einer schwarzen Frau getröstet? Wann soll die Hochzeit sein, ich muß doch wissen, wie ich mich als frühere nun abgesetzte Braut Dir gegenüber verhalten muß. Also bitte unterrichte mich rechtzeitig davon, damit ich zu gegebener Zeit mich in Trauer hüllen kann. Damit du den Grund einsiehst, daß Du mir nachtrauern sollst, lege ich Dir ein Stück von mir bei. Welche Nummer bekomme ich? Verlier mich nicht!!“

Schreibt hier wirklich Semis „abgesetzte Braut“? Hat er ihr von einer Ungarin geschrieben, in die er sich verliebt hatte? Vielleicht spielt Selma Roos mit Vorstellungen, die sie über ihre realen Nöte hinaustragen. Vielleicht hat sie eine Haarsträhne in den Brief gelegt. „Verlier mich nicht!!“

Für einen Augenblick gibt sie sich der Erinnerung hin, an den Freitagabend, den Sabbatanfang: „Wer macht Dir denn den Haarschopf durcheinander? Wo ißt Du die guten Brödle und trinkst die beliebten Schnäpsle? Erst neulich, am Freitag Abend, sagte Papa, jetzt kommt gleich Semi und wir haben nichts aufzuwarten. Wenn es nur so gewesen wäre.“ Semi käme, das wäre gut. Und sie spricht die Situation der Eltern an, verschlüsselt ihre eigene: „ Jetzt ist es gar eintönig für meine lieben  Eltern hier“; sie zählt auf, wer in der letzten Zeit aus Bühl weggegangen ist, wer gehen wird: „Dr. Dreißfuß ist in Santiago. Nachmann’s sind im August nach Palästina. Willy Lieber trägt sich auch mit Auswanderungsgedanken, wer nicht? Geschäftlich ist es ja überall aus!“ Die Angst, allein und verloren zu sein, ruft: „Verlier mich nicht!!“

Jüdische Menschen verschwanden aus der Öffentlichkeit: Ausgrenzung, Verfolgung, Diskriminierung, Entrechtung, Isolierung …, so wurden die Voraussetzungen geschaffen, die Atmosphäre, in der millionenfacher Mord möglich wurde.

1940, nach dem Sieg über Frankreich und dem Waffenstillstand, wurden fast alle jüdischen Einwohner in Baden (und im Saarland und der Pfalz) ins Barackenlager Gurs am Rande der Pyrenäen deportiert. Helma Roos war am 22. Oktober, dem Tag der Deportation, in Bühl. Sie und ihrer Eltern teilten das Schicksal von fast 6000 anderen jüdischen Menschen: Kälte, Hunger, Morast, Trennung von den Angehörigen, Krankheiten, Tod vieler alter und kranker Menschen, Ungewissheit über das Schicksal von Angehörigen — wie das von Elisabeth Roos in Köln.

Wenige Erinnerungen an sie existieren aus dieser Zeit in der „Vorhölle“ von Gurs. Eine junge Frau ihres Alters erzählt, wie Helma Roos die Initiative ergriff: Die Toiletten im Freien, ein Balken über einer Grube, müssten gereinigt werden. Mit Stöcken machten sich die beiden an die Arbeit, den Kot wegzukratzen, nur mit wenig Erfolg. Eine andere berichtet: Helma wollte für Sport sorgen, zur Abwechslung im eintönigen Lagerleben; es gelang wohl nicht. Die Hauptsache für sie: Sie kann mit ihren medizinischen Fähigkeiten helfen. An Patienten fehlte es nicht.

Zu Semi Uffenheimer konnte sie Kontakt herstellen. Sie schrieb, berichtete vom Hunger ihres Vaters. Ihre Schwester erhielt eine kurze Karte, fuhr nach Bühl, um in der Wohnung der Eltern Kleider zu holen und ein paar Stücke nach Gurs zu schicken. Die Schränke waren leer, Hab und Gut der Familie wurde im Januar 1941 in der Turnhalle des Altwindeck-Gymnasiums in der Schulstraße versteigert. So haben auch bei uns in Bühl manche nach der Hinterlassenschaft der Deportierten gegriffen.

1942 war die deutsche Tötungsmaschinerie im besetzten Osten in vollem Gange. Auch die nach Frankreich deportierten Menschen sollten einbezogen werden. Vertreter der SS und Polizeikräfte der Regierung in Vichy, die mit der deutschen Besatzung zusammenarbeitete, sorgten für die Planung und Durchführung der Transporte. Anfang August 1942 nahmen in Gurs die Gerüchte über Verlegungen zu. Der erste Transport aus Gurs begann am 6. August, zuerst ins Sammellager Drancy im Südosten von Paris.

Von dort fuhr am 10. August ein Güterzug los, begleitet von SS-Wächtern und französischer Polizei, mit mehr als 1000 Menschen, darunter Helma Roos und ihre Eltern. Zwei oder drei Tage Fahrt bis zur Ankunft in Auschwitz. 766 Menschen wurden gleich in den Gaskammern getötet, 140 Männer und 100 Frauen ins Lager Auschwitz-Birkenau eingewiesen. Über Helma Roos gibt es keine weiteren Informationen. Sicher ist, dass sie nicht unter den Überlebenden war, als russische Truppen das Lager Auschwitz am 27. Januar 1945 befreiten.

Zwei weitere Texte zur NS-Verfolgung in Bühl sind unter den folgenden Links abrufbar:

Flucht vor den Nazis (Badisches Tagblatt 27.01.2015)

Flucht aus Bühl (BNN, 23.01.2016)

Weitere Informationen und Quellen finden sich im stadtgeschichtlichen Institut, Bühl. 

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